Häuser und Straßen

Lebensader des Bahnhofsviertels: Die Frankfurter Niddastraße damals und heute

Michelle Heyer

Teilen

Die Gegenwart durch Geschichte verstehen. Das war der Ausgangspunkt meiner Recherche als Stadtteil-Historikerin. Dazu bin ich in die Geschichte des Frankfurter Bahnhofsviertels, oder genauer in die jüngere Geschichte der Niddastraße, eingetaucht. Die Diversität der Straße, die auf über einem Kilometer Länge das Gallusviertel mit der Taunusanlage verbindet, hat mich schon vor meiner näheren Auseinandersetzung mit ihrer historischen Gewachsenheit fasziniert. Hier finden viele Aspekte des Frankfurter Stadtbildes zusammen. Kunstgalerien, Kulinarik, Wohn- und Firmengebäude teilen sich die Niddastraße mit einem Konsumraum für Drogengebrauchende.

Wann und wie kamen diese verschiedenen Aspekte ausgerechnet an diesem Ort zusammen? Das war nur eine meiner vielen Ausgangsfragen für das Stadtteil-Historiker-Projekt. Ich wollte wissen, welche Menschen und Geschichten vor und hinter den Haustüren (geht man nach den vergebenen Hausnummern, dann sind es rund 110!) ihr Leben verbringen. Wie wohnt und arbeitet man an einem Ort, an dem es nie ruhig wird? Inwiefern hat sich die Straße seit den 1980er-Jahren, der Hochphase ihrer Bedeutung als Handelsplatz für Pelzwaren, verändert und wie entstand seitdem ihr Ruf als berühmt-berüchtigter Straßenzug?

Das Tempo der Niddastraße ist rapide. Durch die Nähe zum Hauptbahnhof ist sie für viele Besuchende lediglich ein Durchgangsort. Die acht Hotels in der Straße tragen zu ihrem lebhaften Charakter bei. Ein typisches Bild: Zwischen wild parkenden und schnell fahrenden Autos suchen sich Touristen mit Rollkoffern ihren Weg über den Asphalt. Der Ursprung dieser Atmosphäre reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der Frankfurter Bahnhof wurde im Jahr 1888 in Betrieb genommen und kurz darauf die umliegenden Straßen erschlossen und parzelliert. Es folgten Jahrzehnte der Geschäftigkeit in der Niddastraße. Die Nähe zum zwischenzeitig größten Bahnhof Europas machte die Straße als Warenumschlagplatz attraktiv. Ab den 1950er-Jahren siedelten sich mithilfe finanzieller Förderungen der IHK vorrangig griechische Rauchwarenhändler aus Leipzig - dem vorherigen Zentrum des Pelzhandels - in der Niddastraße an. Die Wahrnehmung von Pelz als Statussymbol hat sich in den letzten Jahren durch Tierwohlbewegungen stark verändert, was zur Schließung vieler dieser Unternehmen führte. Doch nicht nur die griechische Community und das Kürschnerhandwerk bewegten in den vergangenen fünf Jahrzehnten die Straße.

„Wir alle leben ganz unterschiedliche Leben und dennoch bringt uns die Niddastraße auf ihre eigenartige Weise für einen kurzen Moment zusammen.“

In Gesprächen mit Menschen, die bereits ihre Kindheit in der Straße verbrachten und dort mittlerweile eigene Geschäfte aufgebaut haben, lernte ich, dass die Niddastraße seit jeher ein Ort immenser kultureller Vielfalt ist. In den 1960er-Jahren siedelten sich italienische Gastarbeitende in der Straße an. Sie fanden Anstellung in der Postzentrale, die im heutigen „Alten Posthof“ saß und reisten oft mit ihren Familien an. Damals wie heute gestaltet sich daher die Tonspur der Niddastraße als eine bunte Mischung aus Griechisch, Italienisch, Deutsch, Arabisch und weiteren Sprachen.

Persönlich lernte ich den kommunikativen Austausch, der in der Niddastraße gelebt wird, nicht nur während Gesprächen mit Anwohnern und Experten kennen, sondern auch als Arbeitnehmerin mit einem Büro in eben jener Straße. Nach meinem Studium der Kunstgeschichte brachte ich mich über zwei Jahre als Kunsthistorikerin in einer Galerie ein. Mein erster Berührungspunkt mit der Niddastraße war daher der Tag meines Vorstellungsgesprächs. Kurze Zeit später führten mich meine morgendlichen Spaziergänge zur Arbeit in eben jene Straße, vorbei an eilenden Reisenden und drogenverzehrten Körpern in Hauseingängen. Oft dachte ich dabei: „Wir alle leben ganz unterschiedliche Leben und dennoch bringt uns die Niddastraße auf ihre eigenartige Weise für einen kurzen Moment zusammen.“

Ich wollte mehr über ihre Geschichte erfahren und konnte mir nicht vorstellen, wie sie einst ein Zentrum des blühenden Handels war. Meine Recherche änderte das und zeigt: Niemand kommt an der Niddastraße vorbei. Entweder hat man von ihr gehört, eine eigene Meinung zu ihr, sie über- und durchquert oder man verbringt einen Großteil seines Lebens in ihr.

Doch lediglich diese Erkenntnis reicht mir nicht aus. Man kann nicht tagtäglich an Menschen vorbeigehen, denen es nicht gut geht, und sich darüber wundern, ohne Ideen zu entwickeln, wie man einen positiven Beitrag leisten könnte.

Mein Beitrag zur Geschichtsschreibung ist die schrittweise Dokumentation von Gesprächen mit Zeitzeugen und Gedanken auf der Webseite www.strangely-local.com. Zu den Gesprächen entsteht eine limitierte Postkarten-Edition mit Motiven aus der Niddastraße, die gegen einen Spendenbetrag erhältlich sein werden. Die Spenden fließen in vollem Umfang in Projekte zur Hilfe für Drogengebrauchende, zur Drogenprävention und zur Entwicklung des kulturellen Angebotes in der Straße. Die Niddastraße steht über ihren zeitlichen Wandel hinweg für lebendige Vielfalt, Ehrlichkeit und folglich für die Stadt Frankfurt.

Ich freue mich über Geschichten und Hinweise rund um die Niddastraße an info@strangely-local.com.

 

Über die Autorin:  Michelle Heyer lebt seit 2022 im Frankfurter Nordend. Nach ihrem Studium in Mainz realisierte die Kunsthistorikerin Ausstellungen für die Frankfurter Galerie Bernhard Knaus Fine Art und koordinierte kulturelle Projekte. Neben ihrer Tätigkeit als Projektmanagerin setzt sie sich für kreative Dokumentation und Vermittlung der Geschichten besonderer Orte ein.