Biografien

Friedrich Siegmund Jucho (1805-1884): Wegbereiter der Demokratie und Retter der Verfassungsurkunde

Ortrud Toker

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Für ein Kapitel in meinem Buch „Vom Ende der Langsamkeit“ (erschienen 2019) suchte ich nach einem Abgeordneten der Nationalversammlung in der Paulskirche von 1848/49, dessen Ansichten ich mit denen des Philosophen Arthur Schopenhauer konfrontieren könnte. In dem Protokollführer Friedrich Siegmund Jucho fand ich die geeignete Person. Da es bis heute noch keine zusammenhängende Darstellung über das wechselvolle und interessante Leben dieses wichtigen Frankfurter Advokaten gibt, beschloss ich, Juchos Biographie zu erkunden. Vor dem eigentlichen Schreibprozess lagen viele Monate intensiver Sichtung umfangreicher Quellen im Institut für Stadtgeschichte sowie in den Archiven der Universitätsbibliothek Frankfurt und der Deutschen Nationalbibliothek. Auch eine Reise nach Berlin und ein Besuch des Bundestages standen auf dem Programm.

Wenn man heute in Frankfurt über die Revolution von 1848/49 spricht, fallen Namen wie Heinrich von Gagern oder Carl Schurz. Bei Letzterem wunderte es mich, dass ihm zu Ehren eine Schule benannt wurde, obwohl Schurz in Frankfurt keine Rolle gespielt und Deutschland bereits 1849 als 20-Jähriger verlassen hat. Über das Leben Friedrich Siegmund Juchos (1805-1884) ist weniger bekannt. Dabei hat der gebürtige Frankfurter von frühester Jugend an sein ganzes Leben dem Kampf für Freiheit und Demokratie gewidmet. Für seine Überzeugungen saß er mehrere Jahre im Gefängnis und verlor einige Male seine Zulassung als Notar. Auch Juchos Rettung der Paulskirchenverfassung war eine kühne Tat. Mit großer Wahrscheinlichkeit besäßen wir heute das Original der Paulskirchenverfassung nicht mehr, wenn es Jucho nach dem Scheitern der Revolution nicht in einer waghalsigen Aktion vor dem Zugriff der Reaktion in Sicherheit gebracht hätte. Das bewegte Leben des Advokaten und Notars ist bis zu seinem Tod eng mit der Geschichte der Stadt Frankfurt und der Revolution von 1848/49 verknüpft.

Der Kampf für Meinungsfreiheit und das Eintreten für demokratische Werte, wie sie 1848 in den berühmt gewordenen Märzforderungen formuliert wurden, setzten in Deutschland allerdings schon viel früher ein. Jucho ist bereits als Student der Rechtswissenschaften politisch aktiv und tritt, obwohl es verboten war, mehreren Burschenschaften bei. Er nimmt 1832 am Hambacher Fest teil und spielt innerhalb der liberalen Bewegung in Frankfurt bald eine führende Rolle. 1833 wird er Mitglied der Polytechnischen Gesellschaft. Jucho verfügt über einen großen Bekanntenkreis, ist mit Literaten, Buchhändlern, Advokaten, Ärzten und Gastwirten befreundet.

Nach dem Wachensturm im April 1833 sitzt Jucho viele Jahre ohne klare Anklage in der Konstablerwache hinter Gittern. „In der Tat bin ich in einiger Verlegenheit, die Anschuldigungen anzuführen, die man wider mich erhebt. Denn man hat sie mir bis zur Stunde noch nicht genannt“, schreibt er nach dreijähriger Untersuchungshaft in einer Beschwerde.

1838 – nach annähernd vier zermürbenden Jahren im Gefängnis – verfasst er selbst seine Verteidigungsschrift, der er ein Zitat Ciceros voranstellt, in dem Richter ermahnt werden, ihr Urteil nicht vorgefertigt von zu Hause mitzubringen. Juchos Schrift beginnt mit den Worten: „Nichts ist schwieriger als eine Verteidigung, wo eine klare Anschuldigung fehlt“.[1]

Am eigenen Leib erfährt Friedrich Siegmund Jucho auf diese Weise das weitverzweigte unterdrückerische System Metternichs und bekommt, neben vielen seiner Freunde und Weggefährten, allesamt Vorkämpfer freiheitlicher Ideen, auch noch einen Eintrag ins „Schwarze Buch“ der Stadt Frankfurt.



[1] Weißler, Adolf: „Ein Kampf ums Recht“, in: Zeitschrift des Deutschen Notarvereins 1903, S.  S. 421.

1848 wird Jucho als erster Abgeordneter Frankfurts ins Paulskirchenparlament gewählt. Neben seiner Hauptbeschäftigung – er war Sekretär und als Protokollführer für die Mitschriften aller Sitzungen verantwortlich – übernimmt er auch eine Vielzahl organisatorischer und lebenspraktischer Aufgaben. So begleitet Jucho den österreichischen Erzherzog Johann, der in seiner Funktion als Reichsverweser Einzug in Frankfurt hält, er kümmert sich um eine rechtzeitige Beheizung der Paulskirche, damit die Abgeordneten im Winter 1848 keine kalten Füße bekommen, und sorgt für Ruhe und Ordnung beim Publikum auf den Galerien, wenn es dort wieder einmal hoch hergeht.

Jucho ist auch Mitglied der parlamentarischen Deputation, die nach Berlin fährt, um dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. im April 1849 die Kaiserkrone anzutragen. Sein energisches, manchmal auch unbeholfen wirkendes Auftreten und die finstere Miene, die er häufig aufsetzte, machten ihn zu einem beliebten Motiv zeitgenössischer Karikaturen.

„Mit großer Wahrscheinlichkeit besäßen wir heute das Original der Paulskirchenverfassung nicht mehr, wenn es Jucho nach dem Scheitern der Revolution nicht in einer waghalsigen Aktion vor dem Zugriff der Reaktion in Sicherheit gebracht hätte.“

Rechtzeitig zu Weihnachten 1848 brachte ein Frankfurter Verlag eine Serie von Schnittbögen heraus. Abgeordnete der Nationalversammlung konnten ausgeschnitten und zu Hampelmännern zusammengebaut werden. Dies war ein Höhepunkt einer durchaus zweischneidigen Popularität, bei der einerseits Hochachtung vor den Parlamentariern und andererseits ihre Verhöhnung verkaufsfördernd miteinander verbunden wurden.

Nach dem Scheitern der Revolution wird Jucho zum Nachlassverwalter des Archivs der Frankfurter Nationalversammlung bestellt. Geistesgegenwärtig verweigert er das Original der Verfassungsurkunde – Ikone und Erbe der Nationalversammlung – dem Zugriff des wiederhergestellten Deutschen Bundes. Als die Herren im Palais Thurn und Taxis nicht lockerlassen und auf die Herausgabe der Urkunde drängen, wird die Sache immer brenzliger. Jucho lässt die Originalurkunde schließlich ins Ausland schmuggeln, was wieder einmal strafrechtliche Konsequenzen für ihn hat. Doch auch diese schwierige Episode der Anfeindung übersteht der Anwalt und Notar mit Anstand und Rückgrat.

Friedrich Siegmund Jucho bleibt sein ganzes Leben seiner Heimatstadt Frankfurt treu. Von 1850 bis 1865 wird er Mitglied der Gesetzgebenden Versammlung in Frankfurt und Führer der Gothaischen Partei, der wichtigsten Bürgervertretung der Freien Stadt Frankfurt. 1857 wird er auch Mitglied der Ständigen Bürgerrepräsentation.  Neben der Politik kamen Geselligkeit, Austausch und Debattierfreude nicht zu kurz. Im „Herrenkränzchen“ traf sich Jucho mit seinen Frankfurter Freunden – unter ihnen der damals hochverehrte Frankfurter Politiker Eduard Souchay (1800-1872) – über viele Jahre hinweg. Im „Herrenkränzchen“ diskutierten sie leidenschaftlich und kontrovers über die politische Entwicklung Deutschlands und die Angelegenheiten der Stadt, feierten und tranken und alterten gemeinsam.

Erst das Jahr 1870 brachte die erhoffte politische Wende. Jucho ließ die Originalurkunde der Verfassung aus England nach Deutschland zurückholen und schickte sie an Eduard Simson, den Präsidenten des Reichstages des Norddeutschen Bundes, den er aus der Zeit der Nationalversammlung kannte. Jucho war zu diesem Zeitpunkt 64 Jahre alt und sah erreicht, was er seit den 1830er-Jahren und in der Paulskirchenversammlung angestrebt hatte: die Einheit Deutschlands auf freiheitlicher Grundlage. Doch nicht alle waren damit einverstanden. Es gab noch einmal heftige Kritik an Juchos Vorgehen und viel Wirbel um seine Person.

Juchos wichtigste Lebensstationen, sein langer Weg innerhalb der deutschen Freiheitsbewegung, sein Kampf um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit bis hin zur Zusammenkunft der ersten verfassungsgebenden Nationalversammlung 1848/49 in der Paulskirche, machen zugleich einen Teil deutscher Geschichte lebendig, der sich inmitten der Stadt Frankfurt abspielte, einem Brennpunkt des damaligen Geschehens.

Der auf der Grundlage meiner Recherchen und von Quellenstudium entstandene Text „Friedrich Siegmund Jucho – Wegbereiter der Demokratie und Retter der Verfassungsurkunde“ beleuchtet Friedrich Siegmund Juchos beruflichen und persönlichen Werdegang während einer turbulenten und aufregenden Zeit in Frankfurt.  Das Buch umfasst 135 Seiten und zahlreiche Abbildungen.

Über die Autorin:  Ortrud Toker. Geboren bin ich in Karlsruhe und war dort in frühen Jahren Balletttänzerin am Badischen Staatstheater. Nach einer Ausbildung zur staatlich geprüften Wirtschaftsassistentin in Mannheim zog ich Anfang der 1980er-Jahre nach Frankfurt zur Pantomimenausbildung. Es folgten mehrere Jahre mit Auftritten auf Kleinbühnen und bei Theaterfestivals. Danach begann ich das Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt mit dem Abschluss zum Magister Artium. Ab 2004 führte ich Schüler und Besuchergruppen durch das Deutsche Filmmuseum und ab 2009 ebenfalls durch das Museum für Kommunikation in Frankfurt. Seit 2012 bin ich Kursleiterin in der Volkshochschule Frankfurt, u. a. in den Bereichen Weiterbildung, Kultur und Geschichte. Zur gleichen Zeit begann ich als Mitarbeiterin in einer Buchhandlung in Sachsenhausen am Lokalbahnhof, in der ich noch heute in Teilzeit beschäftigt bin. 2019 erschien als Ergebnis meiner jahrelangen Beschäftigung mit der frühen Mediengeschichte der Forscherroman „Vom Ende der Langsamkeit“. 2025 werde ich in der VHS Frankfurt diverse Veranstaltungen zum Thema „Friedrich Siegmund Jucho, Wegbereiter der Demokratie und Retter der Verfassungsurkunde“ anbieten. Geplant sind Vorträge mit anschließender Stadtführung zu den Orten des Geschehens.