Meine „Frankfurter Umweltgeschichten“ umfassen einen Zeitraum von 1870 bis ins Jahr 2000. Am Anfang schildere ich die sanitären Zustände in der Stadt Frankfurt am Main, die sich damals gerade anschickt, die Fäkalien der Anwohnerschaft direkt im Main zu entsorgen. Für diese Lösung musste ein Gutachten herhalten. In meiner Schilderung werden noch weitere Gutachten folgen, die unter anderem die frisch gegründete Anilinfarbenfabrik Gans und Leonhardt betreffen. Diese Gründung einer Farbenfabrik in Fechenheim und die Einführung von Wasserklosetts in Frankfurt fallen in das Jahr 1870.
Dies ist das Startjahr meiner chronologischen Erfassung mit Fokus auf die Anilinfarbenfabrik Gans und Leonhardt, die späteren Farbwerke Cassella. Dabei verlasse ich immer wieder diesen Fokus, um ihn auf weitere naheliegende Chemiefabriken sowie die Stadt Frankfurt auszuweiten, denn gerade die Stadt war zugleich Ankläger, Opfer und im großen Stil auch Verursacher von Flussverunreinigungen. Ab jetzt beginnt die Ausführung in den „Frankfurter Umweltgeschichten“ mit der Beschreibung der parallelen Entwicklung und Veränderung von Stadt und Fabrik.
Die Fabrik
Weithin bekannt ist, dass das chemische Gewerbe die Industrialisierung des Rhein-Main-Gebietes nachdrücklich gefördert hat. Das Rhein-Main-Gebiet wurde zum Sitz zahlreicher Firmen der chemischen Industrie, von denen etliche Weltruhm erlangten.
Vor allem die Farbenherstellung erlebte mit der Entwicklung der Teer-Chemie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ständige Ausdehnung.
Nach den Entdeckungen der ersten synthetischen Farbstoffe, 1856 des Mauveins und 1858 des Fuchsins, entstanden in unmittelbarer Nähe des Frankfurter Handelshauses für Naturfarbstoffe Leopold Cassella & Comp. Farbstoff-Fabriken, die die Herstellung dieser neuen synthetischen Farben aufnahmen.
Das Handelshaus Cassella reagierte hierauf, sodass neben dem bisherigen Handel mit den natürlichen Farbstoffen auch der Handel mit den neuen synthetischen Farben begonnen wurde.
Da mit den neuentdeckten Farbtypen exorbitante Handels- und Gewinnmargen erzielt werden konnten und sich diese durch ihre gleichmäßige Färbung sowie ihre licht- und waschechten Eigenschaften zunehmend durchsetzten, wurde deren Eigenherstellung durch die Gründung einer Anilinfarbenfabrik, die 1870 in Fechenheim erfolgte, aufgenommen.
Entworfen wurde die Fabrik vom Chemiker Dr. Leo Gans und dem Techniker August Leonhardt.
Bewusst wählte man für das neue Unternehmen den Namen Anilinfarbenfabrik Gans und Leonhardt, ein Bezug auf das renommierte Handelshaus in der Frankfurter Innenstadt sollte vermieden werden, um das internationale Ansehen bei einem möglichen Scheitern nicht zu gefährden. Dass man schnell in den Fokus der Öffentlichkeit geraten konnte, macht ein Vermerk in der Frankfurter Stadtchronik von Elsbet Wiens für das Jahr 1869 deutlich: Das Brunnenwasser in der Sömmeringstraße war durch das chemisch-technische Labor von Dr. Leo Gans dunkelblau verfärbt worden.
Umweltschutzmaßnahmen begannen sich bei der Gründung der Cassella erst zu entwickeln. Der damalige gesetzliche Rahmen wurde zunächst durch die Gewerbeordnung und das Bürgerliche Gesetzbuch vorgegeben. Für die Errichtung und den Betrieb von Anilinfarbenfabriken gab es für Preußen erst ab 1865 spezielle Bedingungen für eine polizeiliche Konzession.
Diese fanden Anwendung bei der Genehmigung der Anilinfarbenfabrik Gans & Leonhardt.
Die meisten anderen chemischen Fabriken im Rhein-Main-Gebiet waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren gegründet (1842 Anilinfarbenfabrik Oehler Offenbach, 1856 Chemische Fabrik Griesheim, 1858 Chemische Werke Albert Wiesbaden-Biebrich, 1863 Farbwerke Hoechst, 1863 Anilinfarbenfabrik Kalle & Co Wiesbaden-Biebrich) und ihre Genehmigungen entsprechend weniger detailliert ausgearbeitet.
Erste Konflikte
Die farbigen Abwässer der Farbenfabriken sorgten bei den Nutzern der beliebten Flussbäder für erste Konflikte. Entsprechend der Abwasserströme wurden die variabel aufgebauten Flussbäder angepasst und ihr Standort verlegt, mit den Vorteilen der neuen Lage wurde dann geworben. Zur Verursacherfrage für den gefärbten Main gab es erbitterte Schuldzuweisungen; mal wurde die Fechenheimer Fabrik als Verursacher, mal die der Stadt Frankfurt näher gelegene Offenbacher Farbenfabrik von Oehler als Verschulder [IM1] angesehen.
In Fechenheim entledigte man sich des Themas durch den Bau des von Martin Elsaesser entworfenen Gartenbads, das 1929 das modernste Schwimmbad Europas war. Das bisherige Fechenheimer Flussbad wurde eingemottet und später nach Griesheim verfrachtet.
Die Stadt
Die Kanalisation und die Wasserversorgung waren ab ca. 1850 ein mit dem Wachstum der Städte einhergehendes, immer dringender werdendes Problem, das man um die Jahrhundertwende, wenigstens in den großen Städten, durch den Bau von Kanälen, Wasserleitungen und von Toiletten zu lösen suchte. Bis dahin wurde das Wasser vom in der Nähe gelegenen Brunnen in die Häuser gebracht und auf Bottiche und Waschschüsseln verteilt, eine Badewanne wurde oft nur bedarfsweise aufgestellt. Die Heizung erfolgte zimmerweise durch Kamine oder Öfen. Die Beleuchtung durch Kerzen oder Petroleumlampen wurde erst nach und nach durch ein Gas- oder Elektrizitätsnetz abgelöst. In vielen Großstädten sammelten sich in den Rinnsteinen, längs der Bürgersteige die Abwässer der Häuser. Die zahlreichen Choleraepidemien im 19. Jahrhundert lassen heute kaum noch die hygienischen Notstände erahnen, welche zur Lösung drängten.
Um auch die Gegenwart einzubeziehen, bin ich auch auf die Baustelle der S-Bahnstation Ginnheim eingegangen, welche im November 2024 eröffnet werden soll, nachdem der ursprünglich angepeilte Termin von Februar 2024 nicht erreicht werden konnte aufgrund von nicht erteilten Baugenehmigungen, welche lange auf sich haben warten lassen. Damit kann ich zusammenfassend sagen, dass sich Ginnheim aufgrund seiner geographischen Lage von einer kleinbäuerlichen Gemeinde, innerhalb von 113 Jahren zu einem verkehrspolitisch signifikanten Umschlagplatz, welcher in Nord, Süd und Ost eingeteilt werden kann, entwickelt hat. Mit gleich vier Universitäts-Campi, dem größten Einkaufszentrum Frankfurts, der größten Grünanlage Frankfurts und vielen wichtigen und historischen Stadteilen Frankfurts in direkter Nähe. Damals wie heute trifft die Bezeichnung zu, dass Cholera eine Krankheit von Schmutz und Armut ist
Bereits in den 1850er-Jahren konnte der Arzt John Snow mittels statistischer Fallerhebungen in London die Übertragung der Krankheit durch verschmutztes Trinkwasser nachweisen und damit belegen, dass diese nicht durch Dünste (Miasmen) verbreitet wurde, wie seinerzeit allgemein angenommen wurde. Doch selbst nach der Entdeckung des Cholera-Bakteriums im Jahre 1854 durch den Italiener Filippo Pacini wurde der Zusammenhang zwischen Bakterium und Krankheit von den medizinischen Fachkreisen vielfach ignoriert. Dies änderte sich erst drei Jahrzehnte später als der Erreger »vibrio cholerae« 1883 als Ursache der Cholera von Robert Koch bei seinen Reisen nach Ägypten und Indien identifiziert wurde.
Damit war das Ende der Lehre des Hippokrates von Kos (um 460 – 375 v. Chr.) eingeleitet, der die Lehre von den Miasmen begründet hatte, wonach Krankheiten durch giftige Ausdünstungen des Bodens und der Luft weiterverbreitet würden.
Nach dieser Theorie unternahm man im 19. Jahrhundert große Anstrengungen, diese Miasmen und die mit ihnen verbundenen vermeintlich krankmachenden üblen Gerüche zu beseitigen. Zu diesen Maßnahmen gehörten Infrastrukturprojekte, wie etwa eine Verbesserung der Kanalisation. Es wurde als Erfolg und Bestätigung der Miasmentheorie angesehen, dass diese Maßnahmen nicht nur die vermeintlich vorhandenen Miasmen, sondern auch die tatsächlich vorhandene Kontamination, zum Beispiel die Erreger der Cholera, eliminierten. Daher vergrößerte sich die Verwirrung und erschwerte die Erkenntnis der wahren Ursachen.
Nachdem die Mikrobiologie die Erreger identifiziert hatte, die mit Antibiotika bekämpfbar waren, verloren die Seuchen ihre Schrecken und die Einzelheiten der Infektionsmechanismen waren für die Öffentlichkeit nicht mehr so wichtig, zumal allgemeiner Wohlstand die öffentliche und private Hygiene verbessert hatte. Ein glühender Verfechter der Miasmentheorie, Dr. Max von Pettenkofer, sorgte im September 1870 für eine gewaltige Veränderung in der Stadt Frankfurt. Sein Gutachten machte den Weg frei für die Ableitung der Fäkalstoffe durch die in Frankfurt neu verlegten Kanäle.
Die „Frankfurter Umweltgeschichten“ sollen als Fechenheimer Geschichtsbuch veröffentlicht werden.
Über den Autor: Geboren am 8. April 1957 in Dudenhofen, heute Stadt Rodgau, im Landkreis Offenbach. Nach dem Hauptschulabschluss 1972 begann ich eine Ausbildung zum Chemiefacharbeiter im Werk Offenbach der Hoechst AG. Nach dem erfolgreichen Ausbildungsende 1975 war ich in mehreren Abteilungen des Werkes beschäftigt. In dieser Zeit habe ich verschiedene Funktionen als gewählter Interessenvertreter der Beschäftigten wahrgenommen (Jugendvertreter, Vertrauensmann, Betriebsratsmitglied). 2008 wechselte ich innerhalb der Firma Allessa Chemie vom Standort Offenbach zum Standort nach Fechenheim in eine Abteilung zur Druckerfarbenherstellung. 2010 erfolgte meine Wahl zum Betriebsratsvorsitzenden und ich wurde zur Mandatsausübung freigestellt. Seit 2018 bin ich nach einer Vorruhestandsregelung im Rentenstatus. Ich bin verheiratetet, unsere Kinder Andreas und Lena sind 1984 und 1987 geboren. Mit der Geschichte der chemischen Industrie beschäftige ich mich bereits längere Zeit. 2017 erschien mein Buch: „Das Oehlerwerk in Offenbach“ im Sutton Verlag. 2020 folgte das Fechenheimer Geschichtsbuch Band 15: „Die Farbwerke Cassella, ein historischer Rundgang des Fotografen Carl Böttcher durch die Fabrik im Jahre 1895“ und 2022 erschien das Fechenheimer Geschichtsbuch Band 16 mit dem Titel „Stadtteilansichten, Gebäude- und Wohnungsbau der Farbwerke Cassella in Fechenheim“.