Häuser und Straßen

Die Schopenhauer-Häuser an der Schönen Aussicht 17/16: Gedenkstätten und Pilgerorte für Kulturtouristen

Vor achtzig Jahren, am 18. März 1944, wurde die Frankfurter Altstadt im Luftkrieg dem Erdboden gleichgemacht. Auch das klassizistische Palais an der Schönen Aussicht 16, wo einst der Philosoph Arthur Schopenhauer seine letzte Bleibe hatte und 1860 starb, wurde an diesem Tag bis auf die Grundmauern zerstört. Inspiriert von Fried Lübbeckes kurz danach entstandenem Erlebnisbericht „Abschied vom Schopenhauerhause“ (April 1944), einer Art Nekrolog auf die untergegangene Altstadt, wollte ich mich mit der Geschichte des Schopenhauer-Hauses beschäftigen. Dabei standen für mich nicht die baugeschichtliche Bedeutung des denkwürdigen Gebäudes im Vordergrund, sondern seine Bewohner sowie die Rolle, die das Haus für die Identität der Stadtgesellschaft spielte. In diesem Zusammenhang waren die Aufarbeitung und Entwicklung des Frankfurter Schopenhauer-Gedenkens ein wichtiger Punkt meiner Recherchen.

Von den Hausbewohnern der Schönen Aussicht 16 habe ich vier Biografien recherchiert und im Frankfurter Personenlexikon veröffentlicht, darunter die von Moritz Sachs-Fuld (Sachs-Fuld, Moritz | Frankfurter Personenlexikon (frankfurter-personenlexikon.de), dem jüdischen Eigentümer des Hauses bis 1939, und die von seinem Schwiegersohn, dem Architekten und Schopenhauer-Verehrer Ernst Hiller (Hiller, Ernst | Frankfurter Personenlexikon (frankfurter-personenlexikon.de). Außerdem die Biografien des Schweizer Bildhauers Richard Petraschke (Petraschke, Richard | Frankfurter Personenlexikon (frankfurter-personenlexikon.de), der viele Jahre sein Atelier im Hause hatte und eine monumentale Schopenhauer-Gedenk-Büste schuf, die 1930 im Atrium der Schönen Aussicht 16 aufgestellt wurde, und schließlich die des langjährigen Betreuers des Schopenhauer-Archivs, Karl Jahn (Jahn, Karl | Frankfurter Personenlexikon (frankfurter-personenlexikon.de), der 1940 in die Wohnung über Schopenhauers Sterbe-Wohnung einzog (sie war inzwischen zum Museum umgestaltet worden), um die Gedenkstätte zu verwalten.

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Heute identifizieren wir nur noch die Schöne Aussicht 16 als Schopenhauer-Haus. Die Stadt ließ 1958 an dem auf den Trümmern errichteten Nachkriegsbau einen Gedenkhinweis für den Philosophen anbringen. Doch fiel mir bei meinen Recherchen auf, dass es einst an der Schöne Aussicht zwei Schopenhauer-Häuser gegeben hat, die von der Stadtgesellschaft historisch unterschiedlich bewertet wurden. Während die Schöne Aussicht 16, wo Schopenhauer nur kurz wohnte, im Gedächtnis der Stadt lange Zeit überhaupt keine Rolle spielte, hatte man, was bisher nicht bekannt war, am Nachbarhaus Schöne Aussicht 17, wo Schopenhauer von 1843 bis 1859 lebte, schon 1875 eine Gedenktafel für den Philosophen angebracht. Dass diese historisch fehlerhaft war – es hieß, Schopenhauer habe dort von 1831 bis zu seinem Tod gelebt – hat jahrzehntelang niemanden gestört, denn die falschen Angaben wurden knapp dreißig Jahre lang im städtischen Fremdenführer (er war ab 1884 Bestandteil des Frankfurter Adressbuchs) getreulich reproduziert. Erst 1903 wurde die Gedenktafel korrigiert und präzisiert und lautete ab diesem Zeitpunkt historisch korrekt: „Im Erdgeschosse dieses Hauses wohnte Arthur Schopenhauer vom 1. März 1843 bis 1. Juli 1859. Er starb am 21. September 1860 im Nachbarhause Nr. 16.“

Mit dem Verweis auf die Sterbewohnung nebenan trat das Haus Nummer 16 zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals in den Fokus des Frankfurter Schopenhauer-Gedenkens. Doch dauerte es noch mehrere Jahrzehnte, bis mit Erlaubnis des Eigentümers auch an diesem Haus mit einer Gedenktafel auf den Philosophen verwiesen wurde. Erst 1930, anlässlich Schopenhauers 70. Todestages, wurde von der Schopenhauer-Gesellschaft zwischen den Fenstern von Schopenhauers ehemaliger Wohnung straßenseitig ein Schild angebracht, das den schlichten Text „Hier starb am 21.9.1860 Arthur Schopenhauer“ trug. Auf den Stadtrundfahrten des Frankfurter Verkehrsvereins wurden die beiden Häuser regelmäßig angefahren, sodass sich Kulturtouristen und Schopenhauer-Verehrer selbst ein Bild von den beiden letzten Wohnstätten des berühmten Philosophen machen konnten.

"Heute identifizieren wir nur noch die Schöne Aussicht 16 als Schopenhauer-Haus. Die Stadt ließ 1958 an dem auf den Trümmern errichteten Nachkriegsbau einen Gedenkhinweis für den Philosophen anbringen. Doch fiel mir bei meinen Recherchen auf, dass es einst an der Schöne Aussicht zwei Schopenhauer-Häuser gegeben hat, die von der Stadtgesellschaft historisch unterschiedlich bewertet wurden."

Die skizzierte Entwicklung des Schopenhauer-Gedenkens bis 1930 habe ich habe in einem Aufsatz des Titels „Schöne Aussicht 16: Schopenhauers letzte Wohnung in Frankfurt am Main – Aufstieg zum Museum und Totalverlust am 22. März 1944“ ausführlich dokumentiert und beschrieben. Der Aufsatz wird im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft (2024) erscheinen. Bestandteil des Aufsatzes ist auch die Darstellung der politischen Vorgänge, die in der NS-Zeit zur Errichtung eines Schopenhauer-Museums führten. Schopenhauer wurde im Nationalsozialismus politisch und ideologisch vereinnahmt. Im Februar 1938 wurde die Feier zu seinem 150. Geburtstag zu einer „Reichsfeier“ hochstilisiert und fand unter Beteiligung der NSDAP und des Amts Rosenberg statt. Der Frankfurter NS-Oberbürgermeister Friedrich Krebs nutzte die Popularität des Philosophen und machte die Errichtung eines Schopenhauers-Museums in der Schönen Aussicht 16 zur Chefsache. Damit wollte er Frankfurt als weltoffene Stadt präsentieren. Zuvor waren im Zuge der antisemitischen Novemberpogrome 1938 die Mieter von Schopenhauers Sterbe-Wohnung gewaltsam zur Kündigung gezwungen und der Besitzer der Liegenschaft zum Verkauf der Immobilie an die Stadt genötigt worden. Seit dem 1. April 1939 war die Liegenschaft Schöne Aussicht 16 schließlich Eigentum der Stadt Frankfurt, die unverzüglich Sondermittel bereitstellte und mit Hochdruck die Einrichtung des Museums vorantrieb. Die Wohnung galt als authentischer Erinnerungsort, da noch der Grundriss und die Tapeten wie zu Schopenhauers Zeiten erhalten waren. Einrichtungsgegenstände waren zahlreiche Möbel aus dem ehemaligen Besitz des Philosophen, die man in jahrzehntelanger Sammeltätigkeit zusammengetragen hatte. Das Museum war 1940 fertiggestellt, wurde aber wegen der Gefahren, die vom Luftkrieg für Kulturgüter ausging, nie offiziell eröffnet.

In einem zweiten Aufsatz (Arbeitstitel: „Frankfurter Schopenhauer-Gedenken nach der Zerstörung der Schönen Aussicht 16 im Luftkrieg – Zum Schicksal der Liegenschaft, des Schopenhauer-Museums und des Schopenhauer-Archivs“) plane ich, auch die Nachkriegsentwicklung des Schopenhauer-Hauses zu dokumentieren. Als ein Ergebnis meiner Recherchen könnte das heutige Schopenhauer-Gedenken möglicherweise modifiziert und verbessert werden. Denn das 1958 über dem Eingang des Hauses Nummer 16 angebrachte Spruchband aus Bronze – „Hier starb am 21.9.1860 Arthur Schopenhauer“ – ist nicht nur kaum erkennbar, es ist auch wenig aussagekräftig und wirkt ästhetisch deplatziert. Vorbild für eine neue Schopenhauer-Gedenktafel könnte die Gedenktafel sein, die vor Kurzem am Geburtshaus des Philosophen Theodor W. Adorno am Haus Schöne Aussicht 9 angebracht wurde. Sie zeigt neben einem historisch erklärenden Text auch ein Foto von dem Gebäude aus der Zeit vor der Zerstörung. Erste Gespräche haben diesbezüglich mit Vertretern der Schopenhauer-Gesellschaft e. V. bereits stattgefunden.

Über die Autorin:
Dr. Gudrun Jäger ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als freie Autorin und Übersetzerin.