Es scheint sich eine entscheidende Veränderung nach 150 Jahren anzukündigen. Trotzdem lohnt ein Blick zurück auf die Entwicklung einer prägenden evangelischen Bewegung und deren Situation heute. Ich habe meine Recherche nach folgenden Kapiteln gegliedert:
- Persönliche Motive
- Geschichte der Gründung des Diakonissenhauses Kaiserswerth – Ziele und Ideen
- Beweggründe für die Entscheidung, Diakonisse zu werden
- Gründung des Frankfurter Diakonissenhauses und der Nellini-Stiftung
- Ausblick
1. Persönliche Motive
Als ich 1986 in die Cronstettenstraße 56 zog, wusste ich noch nicht, welche „Insel der Nächstenliebe“ gegenüber meiner Wohnung seit langem beheimatet war. Nach einiger Zeit fielen mir auf meinem täglichen Weg ins Büro oder an Wochenenden Frauen mit weißen Hauben in dunkelblauem Kleid auf. Mir waren Diakonissen in Bremen, meiner Heimatstadt, begegnet, denn damals hatten die evangelischen Gemeinden noch Gemeinde-Schwestern, die sich um Kranke und Bedürftige kümmerten. Das waren häufig Diakonissen. Überall, wo „Not am Mann oder Frau“ war, waren sie im Einsatz. Das repräsentative Gebäude der „Rose-Livingston-Stiftung“ beeindruckte mich sehr und ich erfuhr, dass es sich um das Feierabendhaus für die alten Diakonissen handelt, die dort bis zu ihrem Lebensende leben und versorgt werden. Es gab damals ein Krankenhaus und einen konfessionellen Kindergarten sowie ein Pflegeheim. Das Diakonissenhaus Frankfurt feierte vor zwei Jahren (2020) sein 150. Jubiläum. Es hat eine lange, bewegte und erfolgreiche Geschichte hinter sich. Aus diesem Anlass wurde ein umfangreiches Jubiläumsbuch über das Leben und Arbeiten der Schwestern herausgebracht.
Im Folgenden versuche ich, Ihnen in komprimierter Form die wichtigsten Aspekte dieser Bewegung vorzustellen.
2. Geschichte der Gründung des Diakonissenhauses Kaiserswerth – Ziele und Ideen
Ähnlich wie die katholischen Klöster sind Diakonissenhäuser Kulturgüter der protestantischen Welt. Ihre Einrichtungen sind ein lebendiges Beispiel für Liebe und Barmherzigkeit gemäß dem Auftrag Jesu Christi an die Diakonissen. Das Wort „Diákonos“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Diener“ oder „Knecht“. Schon in urchristlicher Zeit gab es ein Diakonissenamt, zurückzuführen auf das biblische Vorbild der „Schwester Phoibe“ im Rom des Paulus, die als christliche Missionarin und Gemeindevorsteherin ihren Dienst an Anderen in geistlichen und leiblichen Nöten tat. Pfarrer Theodor Fliedner und seine Frau Friederike griffen im Oktober 1836 in Düsseldorf-Kaiserswerth nach Kontakten zu niederländischen Mennoniten aus der Erweckungsbewegung und zu der englischen Reformerin Elizabeth Fry, die sich in der englischen Gefangenenfürsorge engagierte, die Botschaft des Dienens auf und gründeten das erste Diakonissenhaus der Neuzeit.
Frau Fliedner wurde dessen erste Oberin.
Dabei spielten die Frauenvereine der Erweckungsbewegung eine besondere Rolle. Als Erweckungsbewegungen werden Strömungen im Christentum bezeichnet, die ihre Existenz der Bekehrung des Einzelnen verdanken. Die praktizierte christliche Lebensweise „Leben in Gemeinschaft mit Gott“ sowie „in der Nachfolge Jesu“ ist Ausdruck dieser Bewegung. Darüber hinaus waren die Armut und Arbeitslosigkeit seiner Gemeindemitglieder für Pfarrer Fliedner ein weiterer Impuls zur Gründung der Diakonissenhäuser.
Noch Jahre später waren die Folgen der napoleonischen Feldzüge in ganz Europa zu spüren und prägten die sozio-ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft. Das beginnende Industriezeitalter brachte zusätzlich gewaltige gesellschaftliche Verwerfungen. Es mangelte an vielen Stellen. Eine ausreichende Versorgung und Pflege von kranken oder alten Menschen oder eine pädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen gab es nicht. Auch ein Asyl für entlassene weibliche Strafgefangene lag Pfarrer Fliedner am Herzen. Daher richtete er 1835 eine Lehr- und Erziehungsdiakonie ein, die eine mögliche Strafffälligkeit von Kindern und Jugendlichen verhindern sollte. Die katastrophalen Verhältnisse in den Krankenhäusern, in denen überwiegend Wärter und keine Pflegekräfte arbeiteten und wo die Kranken weitgehend sich selbst überlassen waren, wurden zum Motor für Pfarrer Fliedner, eine „Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen“ zu gründen, um eine Verbesserung der Zustände zu erreichen. Später leitete er das erste neu errichtete Krankenhaus in Kaiserswerth. Die Ausbildungseinrichtung bot unverheirateten Frauen eine als Kirchenamt anerkannte Pflegeausbildung und Aufgaben in anderen karitativen Berufen. Die Lebensumstände von Frauen und ihre Motivation zu eigenständiger Arbeitim Zusammenhang mit Nächstenliebe waren für Pfarrer Fliedner eine wesentliche Ausgangsbasis.
Es folgten Gründungen in vielen andern Städten im Land. Nach dem Fliednerschen Vorbild gegründete Anstalten schlossen sich 1861 zur Kaiserswerther Generalkonferenz und 1916 uzum Kaiserswerther Verband zusammen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgten weltweit Diakonissenhaus-Gründungen bis hin nach Amerika, Asien und Afrika. Ein sehr bemerkenswertes Beispiel ist die Schule „Talitha Kumi“ in Beit Jala im Westjordanland. In der Übersetzung heißt der Name: „Mädchen, steh` auf!“ und stammt aus dem Markus-Evangelium. Vier Diakonissen und ein Pfarrer sahen 1851 bereits die Notwendigkeit, Mädchen in Palästina eine Ausbildung und einen Schutzraum zu geben. Trotz der vielen politischen Krisen besteht die Schule heute noch mit über 800 Schülern und 60 Lehrern im ko-edukativen System. Die Kinder können ein internationales Abitur ablegen. Auf dem Lehrplan steht u. a. das Fach „Toleranz und Konfliktfähigkeit“. Mädchen spielen sogar in einer erfolgreichen Fußballmannschaft. Die Erinnerung an die Gründer-Schwestern und den Pfarrer wird bis heute gepflegt und hochgehalten. Der Träger der Schule ist das Berliner Missionswerk, eine Art „Außenministerium des EMW (Evangelisches Missionswerk in Deutschland e. V.)“. Wenn Interesse an weiteren Informationen besteht, so steht ein Faltblatt zur Verfügung.
An diesem Beispiel lässt sich u. a. das vielfältige Wirken der diakonischen Idee, nicht nur auf nationaler, sondern auch internationaler Ebene ablesen. Die Institutionen der Evangelischen Kirche, der Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissenhäuser, die Kaiserswerther Generalkonferenz sowie der Weltbund DIAKONIA sind Teil der weltweiten Kirche Jesu Christi. Schwester Hanna Lachenmann aus dem Frankfurter Diakonissenhaus ist in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen, denn sie war von 1987 an Mitglied und später für sechs Jahre Sekretärin des DIAKONIA-Weltbundes. Ihr Einfluss als stellvertretende Leiterin des Mutterhauses und in den 1970er-Jahren in Arbeitskreisen der EKD ist hervorzuheben. Heute lebt sie im Feierabendhaus in der Cronstettenstraße. Hier beantwortet sie meine Fragen.
Nach diesem Einblick in das lange und segensreiche Leben einer Diakonisse stellte sich trotzdem die Frage nach den:
3. Beweggründe für die Entscheidung, Diakonisse zu werden
Die Diakonissen lebten in einer verbindlichen evangelischen Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft (Schwesterngemeinschaft). Es gibt auch ein männliches Pendant, den diakonischen Bruder. Die Diakonissengemeinschaften schlossen sich zusammen, weil sie einem Auftrag Jesu Christi folgen wollten. Ihre diakonischen Aufgaben wurden in Gemeinden, Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Kindergärten, Horten und Kinderheimen, in der offenen Jugendarbeit, in Ausbildungsstätten und anderen Bereichen erfüllt. Jedoch fand im Laufe der Jahre und in einer säkularer werdenden Welt eine zunehmende „Verstaatlichung des Sozialen“ statt, so dass die Existenz der Mutterhausdiakonie heute in Frage gestellt wird.
Die Oberin des Frankfurter Diakonissenhauses, Schwester Heidi Steinmetz, hat sich dazu folgendermaßen geäußert:
Im 19. Jahrhundert sah die Welt noch anders aus. Für viele Frauen bedeutete der Diakonissendienst neben der geistlichen Motivation auch die Sicherung ihres Lebensunterhalts bis zu ihrem Ende und war ein entscheidendes Motiv, diesen Weg anzutreten. Um die Diakonissen vor äußeren Angriffen als ledige Frauen zu schützen und um ihre Professionalität zu unterstreichen sowie sie in der Gesellschaft sichtbar zu machen, gab Pfarrer Fliedner ihnen eine einheitliche Tracht sowie Richtlinien für einen strukturierten Tagesablauf. Dazu gehörten ein einfacher Lebensstil, Ehelosigkeit und Gehorsam. Die Tracht bestand meist aus einem dunkelblauen, grauen oder schwarzen Kleid mit einer Schütze und einer weißen Haube. Im Laufe der Zeit hat sich die Form der Haube und auch die Farbe des Kleiderstoffs mehrfach verändert. Die Diakonissen kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, obwohl die Überlegung von Pfarrer Fliedner am Anfang in eine andere Richtung ging. Ihm schwebten Töchter aus „gutem Hause“ vor, die gebildet und christlich geprägt waren. Aber die Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft waren andere, nämlich Heirat und Familie. Also kamen junge Witwen und „gereifte Jungfrauen“ sowie Waisen oder Halbwaisen in Frage. Normalerweise blieben unverheiratete Töchter im Familienverbund.
Sie wurden mit hauswirtschaftlichen Aufgaben betraut und später wurden sie Pflegerinnen für die älteren Familienmitglieder. Darüber hinaus konnten sie sich jedoch zum ersten Mal als unverheiratete Frauen beruflich sozial engagieren. Um sie standesmäßig aufzuwerten und kleidungsmäßig der verheirateten Frau gleichzustellen, sollte die Tracht die angestrebte gesellschaftliche Stellung der Diakonissen ausdrücken. Sie sollten der verheirateten Bürgersfrau mit dieser äußeren Anpassung in nichts nachstehen und so konnten sie in der Öffentlichkeit agieren und ihren BERUF, sprich „Dienst“, ausüben. Die Ernsthaftigkeit der „Berufseinstellung“ sollte durch die dunkle Farbe der Tracht dokumentiert werden. Von den 3.524 Diakonissen in Deutschland im Jahre 1880 sind 1.024 Töchter von Handwerkern und 805 aus Bauernfamilien. Nur 22 sind Töchter von Ärzten und 77 aus Gutsbesitzer-Familien. Es gibt auch eine erhebliche Anzahl aus Familien von Militär- und Zivilbeamten. Danach könnte man schlussfolgern, je höher der soziale Status, je geringer die Zahl der Kandidatinnen. Trotzdem gibt es genügend Anwärterinnen, die sich aus monokausalen Gründen für ein Leben als Diakonisse entscheiden. Die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten, religiösen Leben in einer Gemeinschaft mit anderen gläubigen Frauen spielte meist ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach materieller Versorgtheit.
Im Jahr 1882 zum Beispiel mussten verschiedene Nachweise erbracht und Bedingungen erfüllt werden, wenn man sich für eine Aufnahme als Probeschwester bewerben wollte. Natürlich war die Selbstprüfung der wichtigste Schritt. Dabei spielten die religiöse Sozialisation, persönliche Erfahrungen wie z. B. Krankheit und Tod in der Familie sowie deren soziale Situation eine erhebliche Rolle. In der Regel durften die Bewerberinnen nicht unter 18 und nicht über 36 Jahre alt sein. Ausnahmen wurden gestattet. Ihr Ruf musste unbescholten sein und ihre Gesundheit ausreichend. Es wurden christliches Wissen und durchschnittliche Schulkenntnisse erwartet. Handarbeitsfähigkeiten und die Bereitschaft, niedere Tätigkeiten zu verrichten, gehörten ebenso dazu. Daneben mussten folgende Dokumente vorgelegt werden:
a) ein Geburts- oder Taufschein
b) ein Zeugnis des Seelsorgers, das versiegelt wurde
c) ein ärztliches Zeugnis
d) eine schriftliche Einwilligung der Eltern oder des Vormundes
e) ein selbst geschriebener Lebenslauf
Die Probezeit betrug mindestens ein Jahr. Während dieser Zeit erhielt die Kandidatin freie Station und Unterhalt sowie Kleidung. Beim Eintritt musste sie Unterwäsche und dunkelfarbige Kleidung sowie Schuhe und eine Bibel mitbringen. Nach dem ersten Jahr gewährte das Mutterhaus einen Erholungsurlaub von drei Wochen, im zweiten Jahr vier Wochen und heute sind es sechs Wochen. Auch für die notwendigen Versicherungszahlungen wurde gesorgt. Ein Diakonissenstift wurde wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt mit allen Rechten und Pflichten. Dabei ist zu beachten, dass die meisten leitenden Positionen mit Schwestern besetzt waren, in leitenden Gremien hatten die Frauen die Mehrheit, wenngleich der Pfarrer, der in jedem Mutterhaus für die kirchlichen Belange zuständig war, eine bestimmende Rolle innehatte. Seit 150 Jahren wird eine Leitungsstruktur in der Mutterhausdiakonie geübt, nämlich eine im Gleichgewicht zwischen Mann und Frau. Diese Struktur sollte ein Modell für die Kirche der Zukunft werden, mit allen Fortschritten und Rückschlägen, die gesellschaftliche Entwicklungen mit sich bringen.
In der Ausbildung legte man großes Gewicht auf die Förderung individueller Fähigkeiten und auf persönliche Eignung. Sie reichte von Hauswirtschaftslehre oder Krankenpflege bis zur Kindergärtnerin oder Erzieherin. Nach bestandener Probezeit wurde die Kandidatin ins Noviziat aufgenommen. Das Mutterhaus übernahm die Sorge für alle Bedürfnisse. Sie erhielt das Schwesternkleid und monatlich drei Mark Taschengeld. Nach Verlauf von zwei bis drei Jahren erfolgte in einem feierlichen Gottesdienst die Einsegnung zum Amt und Berufe der Diakonisse. Sie versprach treuen Gehorsam gegen die Ordnung der Kirche und des Mutterhauses sowie Erfüllung jedes übertragenen Dienstes. Mit der Einsegnung ist sie in den engeren Verband der Schwesternschaft eingetreten und trägt nun das Diakonissenkreuz. Es wird ihr kein Gelübde auferlegt, aber es wird angenommen, dass die neue Schwester ihren Beruf als Lebensaufgabe betrachtet. Die Beweggründe, Diakonisse zu werden, wurden nach der Gründerzeit durch die beiden Weltkriege mit den großen Verlusten in der Männergeneration sowie Wirtschaftskrise, Flucht und Vertreibung überdeutlich. Die spezifische Mischung aus den drei Elementen Arbeit, Gebet und Gemeinschaft wird auch maßgeblich für die Zukunft der Mutterhausdiakonie sein. Die Entwicklung der weiblichen Diakonie wird sich allerdings abhängig von den gesellschaftlichen Veränderungen ergeben.
Grundstrukturen des Wandels sind erkennbar. Klassische Schwesternschaften erscheinen heute für Frauen als Lebens- und Arbeitsumfeld nicht mehr akzeptabel und attraktiv. Zugleich findet eine Suche nach neuen Formen statt. Die Adaption des Alten ist unwahrscheinlich. Soll die Mutterhausdiakonie überleben, muss sie sich sozusagen neu erfinden. Dennoch gehören heute immer noch 74 Diakonissenmutterhäuser und 26 weitere internationale Häuser zum Kaiserswerther Verband. Ein Mutterhaus ist das Frankfurter Diakonissenhaus.
4. Gründung des Frankfurter Diakonissenhauses und des Nellini-Stifts
„Wir leben, was wir glauben!“ ist das Credo der Diakonissen, und damit beginnt die Geschichte des Frankfurter Diakonissenhauses. Im 19. Jahrhundert entstanden in Frankfurt viele Vereine für kirchliche, soziale und kulturelle Zwecke. Für die Entstehung des Diakonissenvereins haben zwei dieser Vereine eine besondere Bedeutung: der Frankfurter Frauenverein und der Evangelische Verein für die Innere Mission in Frankfurt am Main. Frauen und Männer lutherischer und reformierter Konfession gründeten 1861 den Diakonissenverein und 1870 das Diakonissenhaus. Am 8. Juni des Jahres wurde die Gemeinschaft selbständig, nachdem der Senat der Freien Reichsstadt bereits 1866 dem Diakonissenverein die Vereinsrechte zuerkannt hatte. Zu verdanken war diese Gründung einer Gruppe von Damen und Herren der Gesellschaft. Sie stammten teilweise aus den bekannten Patrizierfamilien wie Gontard - Susette Gontard war die große Liebe Friedrich Hölderlins -, Lindheimer - Goethes Großmutter Textor war eine geborene Lindheimer - und Metzler, die berühmte Bankiersfamilie, sowie Souchay, wobei Dr. jur. Eduard F. Souchay u. a. mehrere Jahre an der Spitze der Polytechnischen Gesellschaft und ihrer gemeinnützigen Einrichtungen erfolgreich wirkte.
Die Beschaffung der erforderlichen Geldmittel sowie die Gewinnung einiger Diakonissen gehörten zu ihren Aufgaben. Sie förderten das Diakonissenhaus durch Stiftungen und Spenden, wobei sie als aktive Mitglieder des Frauenvereins verantwortlich waren. Jede Vorstandsdame agierte als Vorsteherin in einem speziellen Bereich wie Krankenpflege, Hebammen- und Geburtenversorgung, Armenspeisung oder Schulen für Mädchen aus armen Familien. Die männlichen Mitglieder des Gründungsvorstands des Diakonissenvereins waren aktive Mitglieder im Verein für Innere Mission. Sie waren Theologen oder Juristen und prägten die Entwicklung des Diakonissenhauses entscheidend. Ohne die großzügigen Stiftungen und Legate der Witwen der Vorstandsmitglieder des Vereins der Inneren Mission oder des Diakonischen Vereins hätten die Grundstücke und Gebäude an der Holzhausenstraße und der Eschersheimer Landstraße nicht für drei Siechenhäuser für verarmte Frauen und Kinder zur Verfügung gestanden. Besonders ist das Ehepaar Carl und Laura Leydhecker zu erwähnen, das wiederholt die Diakonissen mit finanziellen Zuwendungen unterstützt hat. Carl Leydhecker war als Pfarrer und Vorsteher des Diakonissenhauses eine prägende Persönlichkeit. Durch die Schenkung seines gesamten Grundbesitzes mitten in der Stadt sorgte er für eine feste Basis für die Zukunft des Werkes der Inneren Mission und für deren gesunde Weiterentwicklung.
Auch Emilie Rücker-Finger, Marie Emilie Jäger, Marie Georgine Meister und Anna Louise Koch sind u. a. Vorbilder bürgerlichen Gemeinsinns. Alle haben zur Gründung von karitativen Einrichtungen beigetragen. Eine ganz besondere Rolle fällt Rose Livingston in diesem Chor der Stifter und Stifterinnen zu. Die Familie stammt aus dem kleinen Ort Walsdorf im Taunus, heute ein Stadtteil von Idstein. Im Laufe der Familiengeschichte wandelt sich der Name von Mayer zu Löwenstein. Dies ist zurückzuführen auf die unter französischem Einfluss stehenden Verwaltungsreformen für die Einführung von bürgerlichen Namen für Juden. Obgleich über mehrere Generationen hinweg die männlichen Mitglieder erfolgreiche Landwirte und Viehhändler waren, entschied sich 1845 der letzte deutsche Repräsentant für die Auswanderung nach Amerika und dort später für San Francisco als Wohnsitz. Sein Name wurde amerikanisiert in Livingston. Ein starkes Bewusstsein und Verantwortungsgefühl für die Familie waren der Grund, dass er immer mehr Angehörige nach Amerika holte. Dort wurden die männlichen Mitglieder in den inzwischen gegründeten Unternehmen erfolgreich tätig. Die Töchter und Schwestern wurden mit einflussreichen Männern wie Steigenberger und Bloomingdale verheiratet. Der „Clan“, wie man heute sagen würde, war außerordentlich erfolgreich und wurde überaus wohlhabend.
Rose Livingston wurde 1860 in San Francisco geboren und war die Tochter von Mark Livingston, dem Oberhaupt der Familie und Multimillionär. 1870 zog die Familie nach Frankfurt und kaufte eine Villa in der Bockenheimer Landstraße und baute den Livingstonschen Pferdestall, in dem heute der Presse-Club und ein Restaurant beherbergt sind. Rose verband eine enge Freundschaft mit ihrer Erzieherin Minna Noll, genannt Nelli, eine fromme und gebildete Frau. Durch deren Einfluss trat Rose vom jüdischen zum evangelischen Glauben über. Sie war befreundet mit dem Maler Wilhelm Steinhausen und seiner Familie. Als Mäzenin unterstützte sie soziale Vereine und Menschen in Notlagen. Sie gehörte zu den Stiftern der Städelschen Gemäldegalerie. Nach dem Tod ihrer Mutter und ihrer Freundin Minna Noll 1909 beschloss Rose Livingston den Bau eines Heims für alleinstehende alte Damen. Der bekannte Architekt Bruno Paul, der auch für ihre Schwester Fanny Herxheimer tätig war, wurde beauftragt, auf dem Grundstück des Frankfurter Diakonissenhauses an der Cronstettenstraße eine Heimstatt zu entwerfen, die nach Minna Noll, genannt Nelli, „Nellinistift“ heißen sollte. Als Rose Livingston 1914 starb, ging das Gebäude vertragsgemäß in den Besitz des Diakonissenhauses über. 1944 wurde es bei einem Bombenangriff fast ganz zerstört. Aber in der Nachkriegszeit wurde es als Altenheim wieder aufgebaut. 2008/09 wurde ein neues Altenpflegeheim mit 92 Plätzen eingeweiht. Das Nellinistift dient als Zentrale des Diakonissen- und Mutterhauses. Mit einem Anbau mit Schwesternwohnungen dient es den noch verbliebenen Schwestern als Feierabendhaus.
Das Gelände des ehemaligen Diakonissenkrankenhauses an der Holzhausenstraße wurde 2015 verkauft, um Wohnungen Platz zu machen. Die Geriatrische Klinik, ein Teil des Krankenhauses, ist in einen Neubau des Markus Krankenhauses verlegt worden. Das Alten- und Pflegeheim Nellinistift wird vom Evangelischen Verein der Inneren Mission seit geraumer Zeit betrieben, ebenso der Kindergarten und Hort. Nachdem die vier evangelischen Krankenhäuser der Stadt 1998 zu den Frankfurter Diakonie-Kliniken zusammengeschlossen wurden, ging ein wichtiges Kapitel der Diakonissen zu Ende. Auch wenn sie in den beiden Weltkriegen Verwundete in ihrem 1910 durch Stiftungen entstandenen Krankenhaus gepflegt hatten und durch die eigene Krankenpflegeschule unersetzlich zu sein schienen, haben die Entwicklungen der medizinischen Versorgung und die Aufgaben des Sozialstaats die Diakonissen-Einrichtungen entbehrlich gemacht. Dennoch sind sie mit einem Drittel am Agaplesion Markus Krankenhaus beteiligt, das 1881 von Diakonissen mit 15 Betten gegründet wurde. Dessen erster Chefarzt, der Chirurg Otto Loewe, ließ den ersten Röntgenapparat in Frankfurt aufstellen. Er kam als Jude 1933 während der Reichspogrome zu Tode. 1928 hatte er durch Kauf von Grundstücken und mit der finanziellen Unterstützung der Stadt für eine Erweiterung des Krankenhauses auf 174 Betten gesorgt.
In der Zeit des „Dritten Reiches“ bewahrte das Frankfurter Diakonissenhaus seine Eigenständigkeit. Die persönliche Integrität der Leitungskräfte und die einmütige Entscheidung zur Bekennenden Kirche bestimmten den Kurs des Hauses. Trotzdem war der Spielraum im Alltag unter der NS-Diktatur begrenzt. Es gab „nationale“ Feiern und die Übernahme des Hitlergrußes macht deutlich, dass im offiziellen Leben des Diakonissenhauses eine begrenzte Anpassung notwendig war. In einem Fall mussten zwei Schwestern jüdischer Abstammung einen Judenstern auf ihrer Tracht tragen.Dem Irrsinn waren keine Grenzen gesetzt. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Kirche und mehrere Gebäude zerstört. Nach ihrer Ausweisung 1945 durch die US-Besatzungsmacht kehrten die Diakonissen 1955 auf ihr Gelände zurück.
5. Ausblick
Nun springe ich in meinem Beitrag in die Gegenwart. Vor fünf Jahren hat die Schwesternschaft gemeinschaftlich beschlossen, keine Anwärterinnen mehr aufzunehmen, denn es gibt nur noch 13 Diakonissen, die zwischen 78 und über 90 Jahre alt sind. Nur die Oberin Heidi Steinmetz hat mit 60 Jahren noch viel vor sich. Inzwischen können die Schwestern fast nur noch beten, nachdem sie ein Leben lang gedient haben, gemäß dem Bibelspruch auf dem Kreuz, das die Diakonissen des Frankfurter Mutterhauses auf ihrer Tracht tragen:
„Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“
Es gibt immer noch „niedrigschwellige Angebote“ wie das kleine Gespräch, das geduldige Zuhören, das Trösten in der Not, die Sterbebegleitung. Im Seminar-Zentrum mit Übernachtungsmöglichkeiten fühlen sich Gäste sowohl mit kirchlichem als auch nichtkirchlichem Hintergrund wohl, denn es wird ihnen eine „Oase der Ruhe“ für Entschleunigung und Besinnung, Arbeit und Tagung in der Nähe des Stadtzentrums geboten. Die renovierte Kirche hat ein reges, lutherisch geprägtes spirituelles Leben mit Gottesdiensten und Andachten sowie mit Musik-Veranstaltungen mit Chor und Solisten. Das ist ein Teil des Spektrums, aus dem etwas Neues entstehen könnte. Eine Stiftung, die im Gespräch ist, hat die Aufgabe, die Zukunft vorzubereiten. Pfarrer Alexander Liermann, der 2 ½ Jahre der geistliche Begleiter und Berater im Mutterhaus war, wird für den weiteren Weg der Diakonissen nicht mehr zur Verfügung stehen.
Als Ergänzung zu meinem Manuskript sind Videos erstellt worden von Bürgerinnen und Bürgern des Stadtteils Nordend-West sowie von der Oberin des Mutterhauses und der ältesten noch lebenden Diakonisse und ein Abschlusskommentar des Pfarrers des Diakonissenhauses.
Die Fotos wurden freundlicherweise von der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth zur Verfügung gestellt.
Über die Autorin
Eleonore Heuer
Geboren 1945 in Bremen.
Auslandsaufenthalte in London und Paris.
Mehrere Semester BWL-Studium in München.
Langjährige Tätigkeiten als Werbeleiterin eines Industriekonzerns und für mehrere Werbeagenturen mit Schwerpunkt Finanzkommunikation.
Zuletzt Tätigkeit als Mitgründerin einer Unternehmensberatung für Corporate Communication und Corporate Identity.
Vielfältiges ehrenamtliches Engagement.
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