"Die Geschichte der Frankfurter Varietés ist nicht erforscht und läßt sich nur durch […] zufällig erhaltene Dokumente rekonstruieren"[1], las Stephan Hübner in einer Schrift des Historischen Museums Frankfurt. Und so begann er, eine Varieté-Geschichte seiner Heimatstadt zu erarbeiten.
Als Messestadt war Frankfurt schon im Mittelalter ein beliebter Auftrittsort für Gaukler und Akrobaten. Zunächst arbeiteten die Künstler im Freien auf Plätzen und in Straßen. Dass es sie auf Bühnen zog, oft in Säle, so wie es für Varieté typisch ist, setzte erst vor etwa 250 Jahren ein. Als einen der ältesten Hinweise auf varietéartige Unterhaltung in Frankfurt entdeckte ich das 1777 eröffnete Vauxhall des Roten Hauses auf der Zeil, einen tivoliartigen Vergnügungsgarten, der als Varieté-Vorläufer gelten kann. Unweit davon bot etwa zeitgleich auch der Darmstädter Hof reisenden Künstlern ein Domizil für Vorstellungen.
Inspiriert von den Büchern „Roaring Frankfurt“ [2] über das Frankfurter Varieté der 1920er-Jahre und „Kunst der Balance“ über die ersten 25 Jahre des Varieté-Theaters Tigerpalast[3] tauchte ich ein in die regionale Geschichte einer Kunstform, deren moderne Renaissance Ende der 1980er-Jahre von Frankfurt ausging. Im Herbst 1987 nämlich öffnete das Neue Theater Höchst seinen Vorhang erstmals zum „Varieté am Sonntag“. Damals war ich 13, wohnte nicht weit weg vom Theater und war nicht zuletzt, weil ich mich für Zauberkunst interessiere, ein begeisterter Besucher der Shows. Denn Varieté in Frankfurt, das glich zu dieser Zeit einer Sensation, gab es doch sonst nur noch ein regelmäßig spielendes Varieté in Westdeutschland, das Hamburger Hansa-Theater als nostalgische Kuriosität. Das neue Varieté im Frankfurter Industrievorort zeigte nun, gestaltet von Gerald Zier im Auftrag des Bundes für Volksbildung Frankfurt am Main-Höchst e. V., dass auch modernes Varieté seine Freundinnen und Freunde finden kann. Im Folgejahr setzte dann der Tigerpalast von Johnny Klinke und Margareta Dillinger ein weiteres Zeichen: In der Frankfurter Innenstadt präsentierte er nicht nur sonntags, sondern auch an anderen Wochentagen Varieté, mit Künstlerinnen und Künstlern von internationalem Rang. Nach dem Vorbild der beiden Frankfurter Theater entstanden in der Folge viele weitere Varietés in Deutschland. Frankfurt wurde zum Nukleus der modernen Varieté-Renaissance.
Diese Renaissance baute auf einem soliden historischen Fundament auf. Primär- und Sekundärquellen sowie das Studium von Stücken aus zwei Frankfurter Privatsammlungen brachten mich auf die Spur von bislang 61 Orten des Varietés, und noch immer stoße ich auf neue. Fast zwei Drittel von ihnen fand ich in Alt- und Innenstadt (38), weitere im Bahnhofsviertel (10), in Sachsenhausen, Bornheim und im Westend (3), in Nord- und Ostend, in Hausen und in Höchst (je 1). Ihr Spektrum reicht vom Schumann-Theater, dem Varieté-Palast des Pferdedresseurs Albert Schumann am Hauptbahnhof, über kleinbürgerliche Volksvarietés, Sommerbühnen und Tingeltangel bis zu Off-Theatern und Bühnen in gastronomischen Betrieben. Manche von ihnen präsentier(t)en nur Varieté, in anderen war es Teil einer noch umfangreicheren Programmvielfalt.
Den klangvollsten Namen der historischen Frankfurter Varietés hat bis heute das Schumann-Theater. In dem Jugendstil-Prachtbau fanden bis zu 5.000 Menschen Platz, er vereinte Varieté, Zirkus, Sportarena und Operettenbühne sowie verschiedene Bars und Restaurants (1905 bis 1944; Abriss 1961). Die gewichtigsten Konkurrenten waren zu seiner Zeit der Kristallpalast in der Großen Gallusgasse (1911 bis 1927) und das Vergnügungsetablissement Groß-Frankfurt am Eschenheimer Turm (1915 bis 1944; Abriss ab 1945). Im letzteren fanden wechselnde Spielstätten für Varieté und Kabarett eine Heimstatt, wie die Scala – Das Varieté für Jedermann, das Varieté Bier-Palais oder die Weinklause. Bereits vor Eröffnung des Schumann-Theaterszog an der Konstablerwache das Erste FrankfurterOrpheum, Frankfurts erstes internationales Großvarieté, zeitweise rund 1.000 Gäste pro Vorstellung an – in den Jahren von 1890 bis 1905.
»Ab 1987 wurde Frankfurt zum Nukleus der modernen Varieté-Renaissance. […] Die Geschichte des Varietés wäre ohne Frankfurt also nicht komplett.«
Erlaubte mir die Quellenlage bei den bisher genannten Häusern ein relativ gutes Eintauchen in ihre Geschichte, so gibt es genügend andere Bühnen der Vergangenheit, deren Dokumentationslage aktuell noch lückenhaft und teils nur aufwändig zu rekonstruieren ist. Dazu gehören die Frankfurter Varietés der Wirtschaftswunderzeit, wie etwa die Palette in der Berger Straße in Frankfurt-Bornheim. Der Kölner Eduard Forck eröffnete dieses Varieté mit annähernd 400 Plätzen im Jahr 1946. In Räumen des früheren „Schützenhofs“ wollte er an die glanzvolle Frankfurter Varietétradition der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen – mit bis heute bekannten Stars von Lale Andersen und Mady Rahl über Gert Fröbe und Willy Fritsch bis zu Evelyn Künneke und Wolfgang Neuss. Dennoch war dem Varieté kein langes Bestehen vergönnt, und es schloss nach wenigen Jahren.
Derweil begannen sich in der 50er-Jahren im Bahnhofsviertel die Varietés und „Nachtclubs mit Programm“ beinah perlschnurartig aneinanderzureihen, vor allem in der Kaiserstraße. Eines davon war das Schall und Rauch - Die Großgaststätte Frankfurts mit dem Familienvarieté mit etwa 700 Plätzen und Künstlern wie Conny Froboess und Vico Torriani im Programm. Ein anderes war das Rheinland-Kabarett: Dessen Programme dominierten Tanzdarbietungen, zusätzlich gab es, wie in anderen Varietés der Zeit auch, „Publikumstanz“ zwischen den Darbietungen und ein spätabendliches Nachtkabarett. Besonders stolz war man darauf, dass das Haus „in kurzer Zeit zu einem der ersten Häuser Deutschlands geworden“ war. Außerdem punktete es mit architektonischen Details:„Eingang und neuzeitliche Innengestaltung sind architektonische Einmaligkeiten unter den bekannten westdeutschen Vergnügungsstätten“, so hieß es im Programm [4].
Nicht vergessen werden darf das Astoria in der Kaiserstraße 69. Es bestand bereits seit 1925 und war 1947 wiedereröffnet worden. Nach meinen Recherchen ist es das einzige Frankfurter Varieté, das am vertrauten Ort an seine Vorkriegserfolge anknüpfen konnte. Nach dem Krieg traten hier Peter Frankenfeld oder Hans-Joachim Kuhlenkampff auf, vor dem Krieg war das Astoria unter anderem Josef Ringelnatz‘ Hauptgastspielort in Frankfurt. Allerdings kapitulierte auch diese Bühne schrittweise vor der Konkurrenz durch Fernsehen, Film und andere neue Freizeitangebote. Striptease und Schönheitstanz lösten, nicht nur im Astoria, Schritt für Schritt das klassische Varietéangebot ab – als gängiges Symptom des großen Varietésterbens der 50er- und -60er-Jahre, an dessen Ende das Gros der Varietés zu Nepp und Sexshows verkommen war. Die Kunstform erschien endgültig am Boden, bis sie Ende der 1980er-Jahre von Frankfurt aus wiederbelebt wurde.
Die Geschichte des Varietés wäre ohne Frankfurt also nicht komplett. Insofern freut es mich, dass ich bereits mehrfach öffentlich über Ergebnisse meiner Nachforschungen berichten durfte: Am 14. Januar 2019 etwa im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte oder am 18. März 2019 im Magischen Zirkel Frankfurt (mein Gesprächsgast bei letzterem Termin war Gerald Zier). Außerdem entstanden zwei Stadtführungskonzepte, die seit September 2019 im Programm der Frankfurter Stadtevents angeboten werden. Die Route der einen Führung verläuft vom Hauptbahnhof (ehemaliges Schumann-Theater) in die Große Gallusstraße (ehemaliger Kristallpalast), gefolgt von einer Aufführung im Traditionskabarett „Die Schmiere“. Die zweite Führungsroute verläuft vom Eschenheimer Turm (ehemaliges Groß-Frankfurt) durch die Innenstadt zur Heiligkreuzgasse (Tigerpalast). Am 22. Juli 2020 berichtete die Frankfurter Neue Presse über meine Aktivitäten in Sachen Varieté. Im Oktober 2021 werde ich über sie beim Sammler- und Chronistentreffen des Magischen Zirkels berichten, und für 2022 geplant sind ein weiterer Vortrag im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte und eine erste Publikation in einem Sammelband über die Wirtschaftswunderzeit (herausgeben von Nicole Mattern und Prof. Dr. Stefan Neuhaus, von der Universität Koblenz-Landau).
N. B.: Neben den Theatern lernte ich auch einige ihrer Direktorinnen und Direktoren als faszinierende, teils gar schillernde Persönlichkeiten kennen – so die Sängerin Maria von Körffy, die Leiterin des Astoria, den Löwendompteur und ersten Direktor des Schumann-Theaters, Julius Seeth, oder den Bauunternehmer Josef Buchmann, der zu Beginn seiner Karriere das Imperial in der Moselstraße führte. Und nicht zuletzt natürlich Johnny Klinke und Gerald Zier. Auch ihre Viten werden bei der weiteren Erforschung der Frankfurter Varietés eine Rolle spielen.
[1] Schmidt-Linsenhoff, V., Wettengl, K. & Junker, A. (1986): Plakate 1880-1914. Inventarkatalog der Plakatsammlung des Historischen Museums Frankfurt. Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt Band 29; Frankfurt: Dezernat für Kultur und Freizeit.
[2] Piecha, O. M. (2005): Roaring Frankfurt. Mit Siegfried Kracauer ins Schumanntheater. Frankfurt: Verlag Edition AV.
[3] Börchers, S. (2014): Die Kunst der Balance. 25 Jahre Tigerpalast in Frankfurt. Frankfurt: Societät.
[4] Programmheft, Sammlung Stephan Hübner, Sammlungsnummer P-9-0005
Stephan Marcus Hübner