Am Beginn meiner genealogischen Forschungen stieß ich auf Jakob Johann Thorwarth, der im Alter von 19 Jahren 1918 in Frankreich gefallen ist. Er war der erste Sohn meines Großvaters, der sich aus einem Dorf bei Würzburg kommend in Nied angesiedelt hatte. Bindeglied zwischen mir und einem vor fast 100 Jahren Gefallenen war mein Vater. Er war es, der mir als kleinem Jungen den Namen seines „großen Bruders“ auf dem steinernen Denkmal am Mainufer zeigte.
Auf den Spuren des Ersten Weltkriegs in Höchst und Nied suchte ich jetzt nach Kriegsgräbern und den vorhandenen Resten des ehemaligen Ehrenmals auf der Wörthspitze. Während ich mich mit dieser einen Person als Teil meiner privaten Familienforschung beschäftigte, begann mich auch das Bauwerk selbst zu interessieren. Sehr bald stellte ich fest, dass dieses Denkmal eine eigene, spannende Geschichte hat! Besonders reizvoll an dem Projekt war für mich, dass gerade dazu so wenig bekannt oder so vieles in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten ist.
Wie ist es dazu gekommen, dass in dem kleinen und ländlich geprägten Stadtteil Nied so ein monumentales Bauwerk errichtet wurde? Wer hatte die Idee, wer hat es geplant, gebaut und finanziert?
Warum waren nicht nur die örtlichen Handwerker und Firmen aus Höchst und Nied beteiligt, sondern auch überregional renommierte Architekten und Künstler? Warum wurde das Ehrenmal, das den Zweiten Weltkrieg und die amerikanische Besatzung relativ unbeschadet überstanden hatte, in den fünfziger Jahren noch umfangreich renoviert und neu gestaltet? Was waren die Gründe, dass es wenige Jahre danach, 1965, bis auf die heutigen Reste einer „Aussichtsterrasse“ abgerissen wurde?
Noch heute, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, ist das ehemalige Ehrenmal ein sehr heikles, umstrittenes Thema. Von vielen wird die ganze Sache als „äußerst brisant“ behandelt oder am liebsten ganz ignoriert. Die meisten jüngeren Einwohner oder später Hinzugezogene wissen gar nichts oder nur wenig über das „komische Bauwerk“ am Mainufer, das in seiner heutigen Form ziemlich sinnlos erscheint. Für manche, die glauben, die Geschichte zu kennen, sind es einfach die Reste eines „Nazibauwerks“, das Bestandteil des unweit gelegenen „Thingplatzes“ gewesen sei. Für die überwiegende Mehrzahl der von mir interviewten Personen war es doch in erster Linie ein Gefallenendenkmal, das man heute nicht mehr entfernen würde.
»Die Arbeit in den Archiven, der Kontakt mit Zeitzeugen, Ämtern, Kommunalpolitikern und Vereinen war eine interessante Lebenserfahrung, die ich nicht missen möchte.«
War es nicht eher so, dass die Menschen, um die es hier geht, die Gefallenen dieses furchtbaren Krieges, dieser „Urkatastrophe“ Europas, auch später durch die öffentlichen Diskussionen um das Denkmal missbraucht und instrumentalisiert wurden? Man hat oft vergessen, dass es sich eigentlich um das Gedenken an die Kriegsopfer handeln sollte. Meist aus unteren Bevölkerungsschichten stammend, hatten sie oder ihre Söhne als Fabrikarbeiter, Handwerker oder Bauern eine neue Heimat gefunden – und mussten als Soldaten für „Kaiser und Vaterland“ ihr Leben lassen.
Die Sandsteine spiegeln über 100 Jahre Zeitgeschichte wider, angefangen mit den Jahren der Industrialisierung, der alten Schleuse, dem Ersten Weltkrieg und der französischen Besatzungszeit über die Planung und Verwirklichung in den dreißiger Jahren und die Veränderungen in der Nachkriegsgesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre bis in unsere heutige, „moderne“ Zeit. Das Projekt sollte sich mit der Geschichte des Ehrenmals in Bezug zum öffentlichen Umgang mit der Erinnerungskultur in der jeweiligen Zeit befassen.
Als „Maverick“, ohne Unterstützung eines Geschichtsvereins, habe ich mein Buch nicht nur am Computer geschrieben und gestaltet, sondern auch im „Eigenverlag“ herausgebracht. Dabei machte ich völlig neue Erfahrungen, und es gab Probleme, die ich nie vorausgeahnt hätte. Auch die Resonanz im Frankfurter Westen entsprach manchmal gerade bei denen, für die das Buch gedacht war, nicht meinen Erwartungen. Dagegen fand die Arbeit Lob und Anerkennung bei den „Fachleuten“ und Interesse in überregionalen, geschichtsinteressierten Kreisen. Das von mir initiierte Ziel, eine Informations- oder Erinnerungstafel an der Mainterrasse oder auf dem Friedhof anzubringen, fand keine politische Mehrheit.
Neben der Arbeit in den Archiven führten mich meine Recherchen bis zu den ehemaligen Schlachtfeldern, Kriegsgräbern und Museen der „Grande Guerre“ in Frankreich und Belgien. Bemerkenswert ist immer wieder der Vergleich mit dem Umgang mit den „Helden“ und der Erinnerungskultur bei unseren Nachbarn.
Ohne das Projekt „Stadtteil-Historiker“ hätte ich meine Dokumentation nicht publizieren können. Dafür, sowie für die wissenschaftliche Begleitung, bin ich der Stiftung Polytechnische Gesellschaft sehr dankbar. Ich hoffe, dass auch in Zukunft möglichst viele „Nichtakademiker“ und „Hobbyhistoriker“ gefördert werden: nicht „elitär“, sondern nach dem Motto „Bürger schreiben Geschichte“ im Sinne der Gedanken der Französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“!
Über den Autor
Hans Günter Thorwarth
1952 bin ich im westlichen Stadtteil Höchst geboren, aufgewachsen bin ich in Nied. Nach der Niddaschule besuchte ich die Gutenbergschule, eine Berufsfachschule für das grafische Gewerbe. Nicht nur aus Liebe zu Büchern erlernte ich den Beruf des Schriftsetzers und war anschließend als Fotosetzer in Frankfurt tätig.
Herangewachsen zwischen Messdiener und „68er Bewegung“, sammelte ich weitere Lebenserfahrungen als wehrpflichtiger Soldat bei der Luftwaffe. Meinen guten Lehrerinnen und Lehrern ist es zu verdanken, dass ich bis heute stets neugierig und kritisch meinen eigenen Lebensweg ging, der nicht immer dem „Mainstream“ entsprach.
Schon bald war mir das „Dorf“ Nied zu eng geworden, und ich begann mich für fremde Kulturen und exotische Länder zu interessieren. Immer wieder zog es mich in die Welt hinaus, und ich bereiste Europa und ferne Erdteile wie Afrika, Asien, Nord-, Mittel- und Südamerika.
2007 begab ich mich auf eine spannende „Reise in die Vergangenheit“. Auf den Spuren meiner Vorfahren, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Franken und dem Westerwald kommend am Main ansiedelten, wurde ich vom Familien- zum „Heimatforscher“. Seit 1983 wohne ich zusammen mit meiner Frau in Dreieich und betrachte die gesamte Rhein-Main-Region, von Aschaffenburg bis Mainz, vom Odenwald bis zum Taunus, als meine Heimat.
Quelle: Bürger, die Geschichte schreiben (Band II - Dezember 2014)