„Mija Lee hatte nie vermutet, dass sie Alaska einmal mit eigenen Augen sehen würde. Doch so war es: Tausend Meter unter ihr breiteten sich endlose Wälder aus – mutmaßlich voller Bären und Trapper, wie in dem Abenteuerbuch, das sie als Kind verschlungen hatte. Sie hatte auch nie geglaubt, dass sie einmal einen Fuß in eine Boeing 707 setzen würde. Genau wie Kennedy in den alten Illustrierten."
"Doch hier saß sie: in ihrem neuen Reisekostüm, die Stirn an die dicke Fensterscheibe gepresst, entschlossen, keinen Moment der Reise zu verpassen. Dass sie ihrer Sitznachbarin die Aussicht versperrte, musste sie nicht befürchten. Die Nachbarin hatte – wie fast alle jungen Frauen an Bord – in dem Moment angefangen zu weinen, in dem das Flugzeug abhob. Und dabei ihren Vorrat an Taschentüchern ebenso verbraucht wie Mijas, bevor sie erschöpft eingeschlafen war. Mija hatte als Einzige nicht geweint.“
Das ist der Anfang des Romans „Fräulein Lee und Schwester Charlotte“, den ich mit der Unterstützung der Stiftung Polytechnische Gesellschaft geschrieben habe. Das Buch dreht sich um vier südkoreanische Krankenschwestern, die 1966 zum Arbeiten nach Frankfurt kommen, und folgt deren Lebensweg bis 1969, bis zum Auslaufen ihres ersten Arbeitsvertrages. Obwohl die Figuren erfunden sind, habe ich mich stark an die Ergeb- nisse meiner Recherche gehalten. Das Buch ist durchzogen von Auszügen aus Zeitungsartikeln, Akten und Briefen.
Ich habe sechs Krankenschwestern ausführlich zum Thema interviewt, außerdem den knapp 90-jährigen Professor Sukil Lee, der die Krankenschwestern-Aktion ins Leben gerufen hatte, und Professor Dr. Yonson Ahn, Professorin für Koreanische Kultur und Gesellschaft an der Frankfurter Universität. Die meisten Primärquellen habe ich in der Deutschen Nationalbibliothek, dem Frankfurter-Allgemeine-Archiv und dem Institut für Stadtgeschichte gefunden.
Thema des Buches ist, wie die jungen Frauen aus Korea in ein neues Land und in ein neues Leben hineinwuchsen, wie sie mit dem Heimweh kämpften, mit der Sprache und dem Essen, wie sie aber – gerade als Frauen – auch neue Chancen und Freiheiten hatten. Sie stehen repräsentativ für die rund 10.000 Südkoreanerinnen, die von 1966 bis zum Anwerbestopp 1977 in die Bundesrepublik kamen, aus einem der damals ärmsten Länder der Welt. Sie alle unterstützten mit ihrem Gehalt die Familien zu Hause. Obwohl die Frauen einen ähnlichen Lebensweg hatten, empfanden meine Interviewpartnerinnen ihr Schicksal sehr verschieden: „Heimat ist Heimat“, sagte mir eine von ihnen nach mehr als 50 Jahren in Deutschland. „Man kann seine Wurzeln nicht wegdrücken.“ Eine andere berichtete, sie fühle sich nicht mehr als Koreanerin: „Das hier ist mein Zuhause, ich träume und denke auf Deutsch.“ Besonders beeindruckt hat mich das Gespräch mit Bang-Gi Kim, die sich zusammen mit ihrem Mann in Deutschland gegen das Regime von Park Chung-Hee engagierte. Aus Furcht vor dem Geheimdienst hatte sie 20 Jahre lang keinen Kontakt zu ihrer Familie; ihr Mann konnte erst im Alter von 65 Jahren wieder nach Südkorea einreisen. Dennoch sagte Bang-Gi Kim in unserem Interview: „Ich habe das nie bereut und würde es immer wieder tun – gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpfen.
Die Gespräche mit ihr und mit den anderen Krankenschwestern waren für mich sehr inspirierend; ich hoffe, mein Buch wird ihnen gerecht.
»Heimat ist Heimat. Man kann seine Wurzeln nicht wegdrücken.«