Im Verlauf eines Biografie-Workshops legte mir dessen Leiterin Behjat Mehdizadeh, auch eine Stadtteil-Historikerin, nahe, mich mit einem autobiografisch geprägten Thema zu bewerben. So war mein Stadtteil-Historiker-Projekt geboren: Die ehemalige Frankfurter Dialogbuchhandlung, die nicht nur mein Leben als junge Emigrantin und Studentin in Frankfurt geprägt hatte.
Hier kam ich mit der aktuellen tschechischen Exilliteratur in Berührung: Kundera, Hrabal, Havel, Škvorecký, Gruša, Tigrid, Seifert, Šimečka, Kohout und andere. Einer Literatur in meiner Muttersprache, die nur in westlichen Exilverlagen erscheinen durfte.
Meine Recherche führte mich zu Václav Hora, einem Bibliothekar und Literaturliebhaber, der nach seiner Flucht aus der ČSSR im April 1969 „auf seine Weise etwas gegen das Regime tun wollte“, und ins Prager Archiv Libri prohibiti, ein Archiv für oppositionelle Literatur. Aus dem Material erarbeitete ich eine Ausstellung mit dem Ziel, die zeitgeschichtliche Bedeutung der Dialogbuchhandlung für die emigrierten Tschechoslowaken sichtbar zu machen, die innerhalb der Frankfurter Stadtgesellschaft eine kleine Ethnie darstellen.
Weil die Exilkultur eines Landes immer auch einen Bestandteil ihrer Gesamtkultur darstellt, war es mir ein Anliegen, die Ausstellung ebenfalls in Tschechien zu präsentieren. Im Gegensatz zu Frankfurt gab es dort jedoch nur verhaltenes Interesse. Vermutlich ist auch nach 27 Jahren die Zeit für eine objektive Auseinandersetzung mit den Emigranten und deren Kultur außerhalb der Tschechoslowakei noch nicht reif. Weil aber die Zeit für mich arbeitet, bin ich zuversichtlich und plane im nächsten Schritt, die Dialogbuchhandlung in einem zweisprachigen Ausstellungskatalog zu dokumentieren.
Im März 1977 unweit des damaligen Theaterplatzes in der Gutleutstraße 15 gegründet, wurde die Dialogbuchhandlung trotz schwieriger finanzieller Bedingungen vom tschechischen Emigranten Václav Hora mit unermüdlichem Engagement geführt – neben seiner Tätigkeit als Bibliothekar an der Goethe-Universität.
»Hier kam ich mit der aktuellen tschechischen Exilliteratur in Berührung - einer Literatur in meiner Muttersprache, die nur in westlichen Exilverlagen erscheinen durfte.«
Vorwiegend auf tschechische und slowakische Exilliteratur in Originalausgaben und Übersetzungen spezialisiert, vertrieb die Buchhandlung auch Exilliteratur aus Polen, der UdSSR und Ungarn, internationale Filmliteratur, Bohemica und antiquarische Bücher mit osteuropäischem Schwerpunkt sowie Reprints des Exilmagazins Svědectví und einiger in der ČSSR indizierter Buchtitel, die in der eigenen kleinen Offsetdruckerei im Hinterhaus der Buchhandlung gedruckt wurden. Darüber hinaus gab es ein breites Angebot an meist verbotenen tschechischen und slowakischen Schallplatten, Hör- und Filmkassetten. Großer Beliebtheit erfreute sich auch der Autoaufkleber FREE CS, der im Straßenverkehr als Erkennungszeichen unter den tschechoslowakischen Emigranten diente.
Die Dialogbuchhandlung veranstaltete, teils in Kooperation mit dem Club Cesty 68, Lesungen, Podiumsdiskussionen, Filmabende und kleine Konzerte sowie zahlreiche Zusammenkünfte mit Exilautoren und -verlegern während der Buchmesse. Sie organisierte Kulturveranstaltungen mit Bücherverkäufen für die tschechoslowakischen Exilgemeinden in Nürnberg, München, Köln, Hamburg, Amsterdam, Basel, Zürich und anderen europäischen Städten sowie Kulturreisen ins In- und Ausland.
Per Bücherversand, aus dem die Dialogbuchhandlung ursprünglich hervorgegangen war, belieferte sie die gesamte tschechoslowakische Exildiaspora und mehr als 80 slawische Seminare und Forschungsinstitute in der ganzen westlichen Welt. Die Dialogbuchhandlung war in ihrer Konzeption einzigartig und einmalig, sie verhalf mit ihrer Vielfalt an Angeboten meinen Landsleuten, ihre Muttersprache zu pflegen und sich auch außerhalb der Heimat ihre kulturelle Zugehörigkeit zu bewahren.
Über die Autorin
Lea Lustyková
Geboren in Brno/CSSR, verbrachte sie den bewussten Teil ihrer Kindheit in Prag.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings flohen ihre Eltern als überzeugte Dubček-Anhänger im Juni 1969 mit ihren beiden Kindern in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie als politisch Verfolgte anerkannt wurden und Asyl erhielten. Seit 1973 lebt Lea Lustyková in Frankfurt. Nach dem Studium der Germanistik, Slawistik und Amerikanistik an der Goethe-Universität und der State University of Georgia in Athens, USA, arbeitete sie zunächst als literarische Übersetzerin für die Verlage Neue Kritik und Rowohlt Berlin sowie als Dolmetscherin für Palais Jalta, Amnesty International und die Friedrich-Ebert-Stiftung, später als Vertretungslehrerin in verschiedenen Schulformen und als Deutsch-als-Zweitsprache-Dozentin unter anderem am Goethe-Institut. Seit 2003 ist sie zudem als Dolmetscherin des Vierernetzwerks der europäischen Regionen für den rheinland-pfälzischen Landtag tätig.
2014 wurde sie Stadtteil-Historikerin der Staffel V. Von Mai bis Oktober 2016 präsentierte sie als Autorin der Bibliothek der Generationen im Historischen Museum Frankfurt im Rahmen des Projekts „Wege nach Frankfurt“ ihre Ausstellung „Die Dialogbuchhandlung – ein Stück Heimat in der Fremde“.
Quelle: Bürger, die Geschichte schreiben (Band III - November 2018)